von: Florian Bötsch & M6services
Mai 20, 2025
CODAs, oder: Symptome einer gespaltenen Kultur


TYBYDN zu den Kritische Literaturtagen Wien 2025
Entgegen der Verlautbarung, dass neuen Programmpunkten bei der Krilit 2025 der Vortritt gilt, sehen wir uns hier, wie im letzten Jahr, wieder am Mikrofon. Dafür sind wir natürlich dankbar und freuen uns.
Gebärdensprachpoesie TYBYDN, Werkstattbericht aus dem Würzburger
Arbeitsstipendium. Wien, München, Frankfurt, Frankfurt, Wien und was danach
noch kommen mag. Seit einem Jahr stehen wir, Flo und M6services (bürgerlich:
Marco Bötsch), als Kinder gehörloser Eltern hier und dort, honoriert, als TYBYDN auf
Bühnen. Wir nennen es Gebärdensprachpoesie, nennen es Szenische Lesung, aber:
Wann kämpft ihr mit uns?, diese Frage möchten wir stellen.
Für uns drückt sie nicht nur einen Appell aus. Das Ihr ist vage und Wagnis, wir haben gelernt, genau zu adressieren, denn wir richten uns als CODAs zuletzt an eine Gesellschaft, die einen Teil von uns in hartnäckiger Informationsarmut und politischer Ausgrenzung gefangen hält (Zur Erklärung: CODA ist ein praktisches Kürzel, um ein Kind gehörloser Eltern zu benennen, es steht für Child of Deaf Adults). Zuerst aber wollen wir Worte geben an diejenigen, die in der Gebärdensprachgemeinschaft wirken; die in die Gemeinschaft hineinwollen, weil sie sich als Verbündete betrachten oder schlicht Menschen und Sprache verfallen sind; diejenigen, die helfen bei der Verbreitung und Fundierung der Gebärdensprache. Wenn ihr zum Beispiel Veranstaltungen mit gebärdensprachlichen Inhalten macht, veranstaltet sie nicht ohne eine vorherige Community-Arbeit. Es ist wenig gewonnen, Kulturprogramm hinzuschmeißen, ohne die zuständigen Institutionen und Vereinskreise zu kennen, die jene Menschen enthalten, die das Kulturprogramm durch ihre Anwesenheit erst lebendig machen. Dann wisst ihr auch, dass dafür eine andere Kommunikation und aufrichtiges Bemühen nötig ist.
Taube Menschen, Schwerhörige, CI-Implantat-Träger:innen, Gebärdensprachler:innen, sie sind das Publikum. Wir haben zu oft gespielt vor rein hörenden Öffentlichkeiten, und es ist wirklich ein Graus, ein schlechter Tanz, ein exotisierendes Gefallen für die hörende Mehrheitsgesellschaft. Wann kämpft ihr mit uns? Ihr kämpft mit uns dann, wenn ihr die Kultur und ihre Menschen respektiert, wenn ihr neugierig, reflektiert und im besten Falle sensibilisiert auf jene zugeht, und mehr zum Ausdruck bringt als Pressemitteilung und Abendkasse.

Denn was uns vorschwebt, ist eine Welt vieler Sprachen in verschiedenen Darstellungen, eine Welt der Verständigung durch Poesie, in welcher nicht die Berechnung eines Aufmerksamkeitseffektes oder Exotismus die Oberhand hat, denn dann zerfällt unsere Gemeinschaft: in unseren Auftritt und Euer Image. Wir wollen also Raum schaffen für ein Miteinander der Sprachen, in dem ganz eindeutig zu Beginn die Frage danach steht, wie können wir zusammen kämpfen?
Wollen wir nicht endlich die Diskussionen um Teilhabe in einzelnen Bereichen des Zusammenlebens beenden? Müssen wir nicht vielmehr in unseren Gemeinschaften, Kollektiven und Nachbarschaften Solidarität definieren? Müssen wir uns nicht viel mehr der Verantwortung bewusst machen, die ein Mensch trägt, um diese Solidarität auch zu leben?
In Würzburg, in der Gemeinschaft, in der wir aufgewachsen sind, von der wir uns entfernt und wo wir wieder Anschluss gefunden haben, auch dort bleiben wir ohne die Antwort auf diese Fragen ohnmächtig. Wir fragen nach, wir formen ANTI ABLEISTISCHE AKTION. Und ACAB unser Gangsign?
Anliegen und Auftrag ist es für uns heute, genauer gesagt für mich, aus meinem Schaffensprozess zu berichten: ich arbeite an meinem 2. Buch, und dieses wird durch ein Arbeitsstipendium der Stadt Würzburg gefördert. Eigentlich habe ich erst durch dieses Stipendium den Anlass gefunden, das Buch zu beginnen ‒ ich denke, ich hätte ohne eine solche finanzielle Zuwendung erst später versucht, ein solches Buch zu schreiben. Es trägt den Titel “Erik, der Kolporteur”, benannt nach der Hauptfigur, dem schwerhörigen Erik Twen.
Wenn ich über Erik nachdenke, wenn ich ihn fühle und schreibe, dann habe ich oft das Gefühl, dass es ihn nicht gibt. Dass er nicht sein soll, denn er steht für etwas, das es noch nicht gibt: einen hörgeschädigten Menschen, der von einem CODA so geschrieben wird, als gibt es die Spaltung zwischen hörend und Taub nicht oder nicht mehr. Doch wenn wir die Dinge, die in diesem Buch passieren, für reale Geschehnisse nehmen, geht es auch darum, dass Erik im gleichen Verhältnis zu einer anderen Hauptfigur lebt, seinem CODA-Neffen Keno; es geht mir nicht darum, dass sie total verbunden sind oder sich aufrichtig verstehen … mein Buch will viel eher auf die unendlich winzigen menschlichen Regungen eingehen, die Andersprachigkeit und die Abgründe ausarbeiten, aus denen wiederum so etwas Fundamentales entstehen kann wie zwischenmenschliche Akzeptanz vor einer oft brutalen Fremdartigkeit. Das ist wohl auch der Grund, warum ich mit dem CODA-Kitsch in Film, Social Media und Vereinsarbeit so wenig anfangen kann. Erik ist also ein utopischer Mensch, er ist die Vollendung eines Prozesses, der in der Zukunft liegt. Erik ist das verzwickte Futur II. Ich stoße beim Schreiben also unweigerlich auf die vielen Barrieren des Ist-Zustandes, und muss innehalten. Manchmal fahre ich mit einem Lachen oder einem schelmischen Zwinkern über die Grenzen hinweg, manchmal gerate ich davor in Verzweiflung. Derzeit überwiegt in mir die Verzweiflung: daher möchte ich heute aus meinen Erfahrungen innerhalb der Community sprechen. Ich weiß nicht, wie selbstverständlich oder fremd Euch folgende Aussage erscheint: Obwohl ein Kind hörgeschädigter Eltern häufig in der Kultur der Gebärdensprache aufwächst, ist nicht gesichert, inwieweit dieses Kind über diese ‒ seine − Kultur verfügen darf. Und diese Kontroverse scheint darin begründet, dass ein solches Kind eben hören kann ‒ und folglich seine besondere Kulturzugehörigkeit unsichtbar für die allermeisten bleibt. Als steht es, mit dieser lebensweltlichen Voraussetzung, vor der freien Wahl, an welcher Welt es teilhaben möchte.

An dieser Stelle möchte ich glasklar betonen: ich hatte keine Wahl, und habe das erst sehr spät bemerkt. Nicht nur hat meine persönliche Scheinwahl für die hörende Welt zu einer Psychose beigetragen, die ich in meinen erwachsenen Anfängen davongetragen habe, sie war ebenso ein vergeblicher Versuch, von meiner Prägung fortzukommen. Daran schließt sich an, dass wir keinen Einfluss, in welcher kapitalen Form auch immer, geltend machen konnten, um in einer der Welten besser dran zu sein. Für nicht wenige Taube Menschen ergibt sich daraus, dass wir Kinder von unserem Hörvermögen enorm profitieren, uns im Vergleich mehr Karrierechancen in Aussicht stehen, und wir uns daher in der Öffentlichkeit besser nicht mit der Gebärdensprache profilieren sollen oder zurückhalten, wenn Geld im Spiel ist; Geld, dass wir mit und an unserer Kultur verdienen. An sich ist das eine vollkommen richtige Aussage, dass wir über unser Hörvermögen barrierefreier an der Gesellschaft partizipieren können, wir weniger betroffen sind von der Armut an Information und uns durch glückliche Zufälle über ein Abitur einen Zugang zu den höchsten Bildungsebenen des Staates verschafft haben. Doch standen wir mit unserem Fortkommen immer alleine da: Unsere Kernfamilie konnte keine Hilfestellungen dazu geben, sie durchschauen und verstehen das soziale Spiel der Hörenden nicht. Schlussendlich entschieden wir uns, unsere Lebenserfahrungen in Kunst zu verarbeiten, und dafür auch die Gebärdensprache einzubeziehen, weil sie untrennbar mit unserer Lebenswelt verbunden ist. Doch die Hinwegsetzung über ein Gebot soll nicht ohne Zurückweisungen kommen, weder für uns, noch für andere hörende Mitglieder der Community.
Denn leider ist es so, dass eine kleine Gruppe kultureller Eliten in der Gebärdensprachgemeinschaft die Auffassung vertritt, gebärdensprachliche Kunstauftritte und Publikationen den originären Gebärdensprachlern zu überlassen, und das seien nun mal hörgeschädigte Menschen. Dabei handelt es sich beispielsweise um mehrfach ausgezeichnete Gebärdensprachpoeten, die auch als Dolmetscher für große Medienhäuser tätig sind. Die dasselbe ekelhafte Ressentiment der hörenden Gesellschaft übernehmen, alle CODAs in ihrem Dasein über einen Kamm zu scheren und unsere Privilegien mit einem 100%-Gehör gleichzusetzen. Das ist eine vollkommen unzulässige Markierung, weil sie einen Menschen auf seine natürlichen Anlagen reduziert. Und verkennt dabei die Umwelt, in der wir leben. So finde ich, schadet diese Elite nicht nur nicht selbst, sondern der gesamten Gebärdensprachgemeinschaft, mit dieser falsch ausgerichteten Politik um kulturelle Eigenständigkeit und Teilhabe, denn was würde ein Tauber Mensch sagen, wenn man ihn in seiner Identität auf seine kaputten Ohren reduziert? Wenn man ihn überhaupt auf seine Identität reduziert? Eine Geschichte, die zuletzt bei meinem Bruder Flo und mir einmal mehr zu Gesprächen geführt hat, war die über ein kleines Mädchen: Tochter eines hörenden Gebärdensprachdolmetschers und -performers sowie einer hörgeschädigten Mutter, knüpfte sich der eben skizzierte, Taube Poet den hörenden Vater und seine Tochter vor. Um ihnen vor tausenden Followern nahezulegen, das ganze öffentliche Teilen von gebärdensprachmusikalischen Videos zu unterlassen, das sei einmal mehr kulturelle Aneignung und die Profitgier schlechter Menschen, die ihre Bereicherung auf dem Rücken Tauber Menschen betreiben. Ich möchte die harten Kämpfe Tauber Menschen um Sichtbarkeit und Augenhöhe nicht schmälern: doch einem Kind, das in die Gemeinschaft hineingeboren wurde, das Spaß an solchen Videos findet; durch einen Appell an den Vater zu verbieten, seine Freude über seine Sprache öffentlich zu teilen, kann und will ich nicht mitgehen. Ich solidarisiere mich hiermit mit diesem Mädchen und verurteile das Vorgehen dieses selbsternannten Kulturbüros.
Es ist nicht schlimm, wenn ich das mit einem Publikum teile, welches davon möglicherweise zum ersten Mal Kenntnis nimmt und sich vielleicht schon mit ersten Fragezeichen konfrontiert sieht: die Dinge können ohnehin, gesamtgesellschaftlich, kaum schlechter stehen; und da es bei den Kritischen Literaturtagen um Weltverbesserung geht, wollen wir unseren Teil dazu beitragen mit einer Aufklärungsarbeit, deren Schaden überschaubar ist. Ich bitte lediglich darum, diese Informationen nicht mit Wissen um die Community zu verwechseln, und nicht leichtfertig mit dieser Situation um sich zu quatschen und weiterzuerzählen. Teilnahmsvolles Zuhören reicht im ersten Moment vollkommen aus. Ihr wisst bereits, welches Gift der sozialen und politischen Spaltung schon in der Verwendung einer Kunstform stecken kann. Und abgesehen von den vielen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, lernt man auch vieles über den Kulturbetrieb im Allgemeinen und darüber hinaus. Denn selbst wenn man der gängigeren, künstlerischen Arbeit an der deutschen Laut- und Schriftsprache begegnet, steckt in jedem Wort schon gesellschaftliche Trennung und Hierarchisierung, die sich hier vielleicht einfach besser verstecken lässt.
Wenn ich schreibe, schreibe ich also nicht nur gegen die Ignoranz und Machtposition einer hörenden Mehrheitsgesellschaft an, sondern gegen innere Widerstände. Ich muss mich und mein Schreiben, meine Kunst und meine Sprache ständig legitimieren. Ich konkurriere laufend mit der “echten” Gebärdensprachkunst und -poesie und stemme mich gegen deren Erwartungen und Ansprüche, Teil der authentischen Kultur zu sein ‒ wie auch immer so etwas aussehen soll. Daher kann ich mich auch nicht blindlings in diese Kultur flüchten, denn sie ist mangelhaft. Dass mein Bruder und ich laufend von Gehörlosenverbänden, -kulturvereinen, CODA-Verleger:innen, Veranstaltern und anderen gebärdensprachlichen Kunstschaffenden missachtet werden, ist daher kein Zufall: mag unsere Kunst auch noch so schlecht sein, Kulturpolitik ist hier am Werk.
Wo stehen wir also? Mitten in der Ambivalenz. Zwischen dem Wunsch nach Netzwerk und Verbundenheit, poetisch, kulturell, politisch; und der eigenen Verortung außerhalb oder am Rand einer Kultur, für deren Zugehörigkeit uns die Qualifikation aberkannt wird.
Wann kämpft ihr mit uns?, fragen wir Euch. Wir rufen Euch auf, Euch mit uns aus der Ambivalenz herauszukämpfen, aus dem Prekariat, aus dem Widerspruch zwischen Verbundenheit und Konkurrenz. Denn solange Kulturpolitik gemacht wird, die sich von der Spaltung der Gemeinschaft ernährt, die Selektion betreibt, die die Wenigen mit Preisen überschüttet und die Unwürdigen verstößt, werden auch wir gespalten bleiben. Solange eine Kulturpolitik herrscht, die sich aus öffentlichen Staatsgeldern und privaten Stiftungsgeldern speist, vermittelt durch das Geld der kapitalistischen Produktionsweise, werden wir immer Beherrschte bleiben, werden wir niemals frei sein und arm bleiben. Wir wollen euch zuletzt dazu ermuntern, euch in die künstlerische Gemeinschaft zu begeben, Banden und Kollektive zu bilden. Um die Produktionsmittel wieder in die Hände der Kulturschaffenden zu legen und Freiräume für alle zu erstreiten. Alles für alle, und zwar umsonst!
Zu den vorgetragenen Werken „Propheten und Gangster“
zum Festival der Zukunft, München 2024
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Propheten und Gangster
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