von: Florian Bötsch & Marco Bötsch
Juli 13, 2024
Identitäten auf Zäunen


Vorrede
Man sagt: das Gras ist immer grüner auf der anderen Seite des Zauns. Zumindest für die englisch-Sprachigen. Oder wie Karl Ziegler in seiner Kolumne#6 für die KLW schreibt: man sollte auf einem Zaunpfosten oder einer -latte sitzen, um einen Fuß jeweils in einem schönen Kulturgarten zu haben.
Das haben wir auch, doch der Gartenboden ist Lava, und es ist kein Kinderspiel. Das versuchen wir auch, doch die Zaunpfosten sind zu hoch, um den Fuß irgendwo drauf zu bekommen. Das sind wir auch, von den Flaggposten an Stricken hängend, während geschmolzener Stein das Fußwerk vernichtet.
In die Deutsche Gebärdensprache geboren, ist der Zaun selbst beizeiten Halluzination, und die Krankheit zweier Identitäten, die sich gegenseitig ausschließen, eine unsichtbare Wuchernis. In die Deutsche Gebärdensprache hinein geboren, ist die Verwendung der Sprache bereits Kritik.
Gebaut auf Entmenschlichung, Degradierung, dem Abtasten von Kehlköpfen, dem Stechen von Stiften in Münder und unter Zungen und Zwangssterilisierung.
Wir lesen, singen, tanzen und gebärden für Hörende, die das oft nicht wissen und noch viel seltener verstehen. Wie und wenn überhaupt.
Wir lesen, singen, tanzen und gebärden für Taube, die das zwar wissen, und zwar stolz sind auf ihre Kultur und Sprache und neuerdings eine eigene Flagge haben, doch sind sie nicht wütend. Warum seid ihr so brav und angepasst? Wir wollen das nicht akzeptieren.
Wenn wir auf der Bühne stehen und performen, bewegen wir uns darin.

Das Festival der Zukunft 2024 — eine Übersicht
Am 29. und 30. Juni waren wir beim Festival der Zukunft (FdZ) als Speaker und Performer gebucht. Im Innenhof sowie im „Forum der Zukunft“ des Deutschen Museums München gelegen, hatte das Festival es sich zur Aufgabe gemacht, verschiedene Organisationen, Unternehmen und Denker:innen einzuladen. Um der Zukunft auf die Spur zu kommen, in Verbindung mit Technik und Gesellschaft. Zwischen Harald Lesch, Roboter-Lämmern und dem Fraunhofer Institut, war es nach Absicht der Veranstalter:innen unser Zweck, Auflockerung, Unterhaltung, Kunst, Sprache der Zukunft und neue Zugänge zu Sprache anzubieten.
1. Selbstkritik
Bevor wir im zweiten Abschnitt das FdZ kritisieren, möchten wir die Kritik mit uns beginnen: auch wir haben uns kräftig an der Vergangenheit und Gegenwart bedient. Weil es keine Befreiung für die Zukunft geben kann, wenn man auf sie verzichtet. Das wird man an unserem Text nachvollziehen können, er steht weiter unten. Aus der geschichtlichen Perspektive kann außerdem kein anderer Begriff von Zukunft entstehen als ein kämpferischer: sprachlich und gesellschaftlich Augenhöhe zu erreichen kann nur über eine Zerstörung etablierter Verhältnisse und ihren Institutionen erfolgen. Zukunft ist für uns also immer etwas zu Erstreitendes.
Dabei müssen wir uns als Kinder Tauber Eltern auch selbst zerstören, zumindest unser Selbstverständnis als assimiliert hörende Akteure einer Gesellschaft, die zu oft Integration mit Anpassung verwechselt. Allerdings können wir hierfür weder soziale Bewegungen lostreten noch auf bestehende Dynamiken zurückgreifen. Hierfür möchten wir ein paar Beispiele geben:
Die sogenannte CODA-Schicksalsgemeinschaft (CODA=children of deaf adults; deutsch: Kinder Tauber Eltern), die sich in den letzten Jahren in Vereinen und Initiativen formierte, durch einen preisgekrönten Film namens „CODA“ auch als Begriff an Bekanntheit gewann; und als Herausbildung einer neuen Kategorie Mensch zu einer „Sensibilisierung“ für die Betroffenen beitragen soll, als einfache Erklärung komplizierter Biografien; ist letzten Endes nichts als eine Therapiestube für traurige Kinder, Teenager und Erwachsene, die endlich einmal ankommen möchten im Leben. Und Gebärden tanzen für die nächsten Generationen. Tanzt ruhig weiter die angestaute Wut raus und verkennt, welchen Anteil die Gesellschaft an Eurer Psychose hat. Euch fehlt das zugehörige politische Bewusstsein.
Aus dem Moment des doch-hören-Könnens, einer Art survivor‘s guilt heraus, es aus dem Ghetto der Stille geschafft zu haben und vielleicht es zu mehr zu bringen als unsere be_hinderten Eltern; würde eine Taube Bewegung ohnehin keine hörenden Bastarde an die Spitze ihrer Bewegung setzen. Man stelle sich zum Beispiel die Bestrebungen zum Gehörlosengeld vor, welches in lediglich 6 von 16 Bundesländern ausbezahlt wird (auf Antrag wohlgemerkt, nicht pauschal, doch was soll man mit €61,30 im Monat?, wie es in Sachsen-Anhalt der Fall ist), welches seit längerem eine politische Forderung Tauber Communities im ganzen Land ist. Neben Dolmetscherkosten und -mangel, barrierevollen Medien und Räumen, ist es eine der vielen Quellen des Ausschlusses. Nach der Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache 2002, ist, zwanzig Jahre später, wohl in Vergessenheit geraten, dass man für Forderungen auch die Straßen an sich reißen muss. Doch wie in vielen anderen Communities auch, wird der Aspekt der Widerständigkeit vernachlässigt zugunsten einer theoretischen Selbsterkundung, die sich an Begriffen wie deafhood, deaf eco system und deaf gain erkennen lässt. Wie soll man stolz sein, wenn der Ausschluss akut bleibt?
Kommen wir zurück zur hörenden Mehrheitsgesellschaft: im Sinne intersektionaler Kämpfe gäbe es hier ja durchaus Anschlussfähigkeit an bestehende emanzipatorische Bewegungen, allein weil es ja immer Taube FLINTAs und BIPoCs und Queers gab und gibt. Doch gibt es auch hier die in 1. und 2. genannten Hemmnisse: CODAs sollen nicht für ihre Eltern sprechen. CODAs können ihre Eltern nicht einfach in öffentliche Räume zerren, die für jene überlastend oder unsicher oder verletzend sein können. CODAs sind aber auch keine eigene Bewegung emanzipatorischer Art — denn was bitteschön sollen CODAs an sich erstreiten? Ihnen fehlt ja nichts. CODAs können lediglich Mitleid erstreiten und ihre Opferrolle ausbauen. Non-queere/-BIPoC/-FLINTA CODAs können sich nur gegen beide Welten richten, wenn sie sich als politische Subjekte verstehen. Sie teilen in den meisten Fällen weder die Sieger-DNA des weißen Imperialismus und können hier höchstens mitlaufen, noch die krassesten Übergriffe auf ihre Eltern und die damit verbundenen Unterdrückungserfahrungen (zumindest im audistischen Bereich). Das einzige politische Schicksal, das cis-männlichen non-queer weißen CODAs bleibt, ist die bedingungslosen Hingabe an die Befreiung aller. Die Identifizierung bestimmter Lebensumstände und Mechanismen der Unterdrückung ist nur ein erster Schritt: nimmt man die auch gravierenden beruflichen und finanziellen Benachteiligungen durch ein selektionistisches Bildungs- und Arbeitssystem hinzu, sind diese Kämpfe ohne Klassenbewusstsein nutzlos.

2. Kritik am FdZ
Zur Erinnerung: das FdZ fand am 29. und 30. Juni (Sa+So) statt. An beiden Tagen hatten wir je zwei Auftritte.
Nach unserem ersten Auftritt am Samstag saßen wir zwar schnell wieder hinter der Bühne auf einer Bank; doch überhörten wir ebenso unmittelbar das Thema der anschließenden Podiumsdiskussion — KI-Avatare, die mit Tauben User:innen zu kommunizieren imstande sind. Von Stimmen und Vortrag angelockt, ging ich (Marco) um die Bühne herum und sah vier Menschen, die miteinander lautsprachlich redeten. Es war weder eine Taube Person als Expert:in noch als Betroffene:r noch als Gebärdensprachdolmetscher:in anwesend. Auch kein:e hörende:r Gebärdensprachdolmetscher:in. Da bekam ich ein wenig Mitleid und überlegte, ob ich nicht spontan dolmetschen sollte; im Laufe des Festivals stellte sich heraus, dass ein einziger Schwerhöriger im Publikum war. Was bezwecken/-t die Veranstalter:innen/man mit einer solchen Konzeption? Ohne Berührung oder Kommunikation mit denjenigen, für und durch welche die Technik kreiert wird, wirkt die Präsentation derselben wie eine weitere Trophäe der Hörenden — seht her, wir retten die armen Tauben mit unserem Know-How! Dabei fällt selbstverständlich unter den Tisch, dass Taube Gebärdensprachler:innen essenziell für das Aufbauen und Anlernen einer solchen KI sind und dafür viele Stunden harter Arbeit hineinstecken. Die Mitarbeiterin, die uns für das Festival gebucht hatte, verriet überdies, dass am Ende schlichtweg kein Geld für Dolmetscher:innen übrig gewesen sei — man habe das Budget ja ohnehin überzogen.
Ist das also die Zukunft? Eine Zukunft, in welcher Vorträge intellektuell in Sprachen abgebildet werden, die die Bevorteilung der Bevorteilten weiter aufrecht erhält? Eine Zukunft, in welcher der Raub von Wissen zugunsten der Herrschenden und zulasten der zuarbeitenden Unterdrückten geht, auf deren Wissen die Technologie erst lebendig und möglich wird? Eine Zukunft, in welcher Veranstalter:innen weiterhin Prestige, Rang, Name, Profit und Rentabilität über eine wirklich intelligente, soziale Zukunft stellen? In der Barrierefreiheit immer der letzte Ausgabeposten ist? Wie schwer kann es sein, zwischen etlichen Speaker:innen und einer vernünftigen, sprachlich vielfältigen Wiedergabe abzuwägen?
Was beim Festival der Zukunft augenfällig wurde: man brachte es leichtsinnig fertig, die Zukunft zu entpolitisieren. Es gab keinerlei Verknüpfungen von Technik, Gesellschaft und anschließenden Verteilungsfragen; Technologien und Forschung wurden derart präsentiert, als seien die Fragen bereits erledigt oder man verlor sich im besten Politiker:innensprech, in vielen Sätzen keinen Inhalt zu haben. Wer profitiert von einer grünen Stadt? Von Urban Ecology? Von der „Tube“, einer Röhre, die sich einmal um den Äquator spannt, um die Weltbevölkerung zueinander zu bringen in Zeiten der Endzeit? Wer kontrolliert Technik und zu welchem Preis? Das alles sind Fragen der Kultur: und zeigen, dass Zukunftsfestivals (was ohnehin sehr hochgegriffen ist) genauso steril sein können wie unser Zeitgeist, unser Vokabular, unser Sprech, wenn wir jedes Mal vergessen, wer die Menschen sind und in welchen Rollen und Beschränkungen sie stecken. Technik ohne Humanität ist sinnlos und zynisch. Die Entpolitisierung der Technik kommt einer De-Kulturation und Naturalisierung gleich. Das Festival der Zukunft ist einmal mehr ein Einstimmen auf die politiklose Zukunft gewesen. Ein geschichtsvergessener Ort des futuristischen Neo-Liberalismus, der dem Faschismus unserer Tage nichts entgegenzusetzen hat und ganz viel politischen Raum herzuschenken bereit ist.
Skript „Festival der Zukunft“ 29./30. Juni 2024
Zu den vorgetragenen Werken „Propheten und Gangster“
zum Festival der Zukunft, München 2024
Lesen Sie hier:
Propheten und Gangster
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