von: Florian Bötsch & Marco Bötsch

November 11, 2023

Lesereise ’23:
Zwischen Prekarität und Gewalt
Erster Teil

Aus Würzburg und Frankfurt – Skizzen, Fetzen und Ideen einer mehrteiligen Kolumne, 11. November 2023

Wenn es eine Lesereise in 2024 geben würde, dann wäre es im Oktober spätestens Zeit gewesen ebendiese zu planen. Für einen kleinen, unabhängigen Verlag und einen gemeinnützigen Verein mit geringen Mitgliederzahlen heißt das, soviel haben wir aus der Lesereise ìntimo gelernt, sich gemeinsam mit dem Autor oder der Autorin in die prekären Bedingungen gegenwärtiger Förderungsmechanismen zu begeben (einzugraben).

Wenn es eine Lesereise in 2024 geben würde, dann wäre sie hoffentlich eine Kooperation mit dem Literaturhaus Würzburg, mit der Stadt Würzburg als Förderin ihrer hier ansässigen Künstler:innen sowie den vielen Partnern, Freunden und Bekannten des KLW-/Rotscheiben-versums, zum Beispiel dem Netzwerk Unabhängiger Literaturzeitschriften (NULZ), die überall im deutschsprachigen Raum sitzen. Vielleicht würde man sich mit der Band Thrazz, die bei der KLW-eigenen Jungen Lesebühne “yunglit” im Cairo öfter auftritt, zusammentun, um Katha im Import/Export München einen weiteren Besuch abzustatten. Dann wäre es wieder nicht weit, den Cortex zu sprengen, und Crash Bandicoot gleich durch die Manège neben der Frittenbude zu springen. Überzeugen Sie sich selbst – der Neue bei Thrazz ist der Pep Guardiola des Bühnensports.

“Es gibt für mich nichts Schöneres, als Gewalt in Kunst verpackt zu sehen”, so sprach einmal ein Musiker, irgendwo an einem Würzburger Tisch aus Holz. Um damit genauer zu meinen, wenn beim Death Metal die Hände fliegen und die Meute weiß, dass gleich Menschen zum Breakdown gefällt werden wie in Zwergenromanen Orkschnauzen. Bedient man sich des Clichés, zu unterstellen, dass Metalheads vorliebige Konsument:innen der Fantasy-Erzählungen sind? Ist, wiederum, die Alltagssituation eine Unterstellung, dass jene am Abend die Ellenbogen in den Bauch des Nebenmenschen rammen, um dann etwas versandet, den Morgen drauf, davon zu lesen, wie der Scharfrichter einer Ehebrecherin den Kopf abgetrennt? Fahren wir, mit diesen wie mit anderen, täglich Straßenbahn?

Was macht Gewalt in Ihrem Kopf? Wie viele Gewaltfragen stellen Sie sich, und wie lauten sie? Haben Sie Aggressionspotentiale oder -probleme? Um selbst darauf zu antworten: Gewalt ist nicht banal, und sie erschöpft sich nicht in Aggressionen. Dass sie es tut, ist ein häufig anzutreffender Trugschluss. Was bewirkt Gewalt in der Literatur?, diese Frage trug ich denn nach der Konversation mit besagtem Musiker nach Hause; und versuche sie nun, kraft meines verlegerischen Kolumnenauftrages, mit Ausführungen über Lesereisen zu koppeln, womöglich zu beantworten, wie immer vorläufig.

Herkömmliche, konventionelle Lesungsformate mit einem tief ins Polster gleitendem Lesenden und einem Publikum, das es ihm oder ihr gleichtut, können ein langweiliges Schrecken sein, auf den ein Mancher nur mit Aggressionen zu antworten weiß. Ein Bezug oder der nächste Schritt zumindest zu verbaler Gewalt ließe sich herstellen. Innere Unruhe, Ekel, Ablehnendes oder bloßes Unverständnis sind abhängig von ihrer Kommunikation und Äußerung Gewalt-ähnliche Vorstufen beziehungsweise Reaktionen. Fragen, die sich also mit “Was bewirkt Gewalt in der Literatur?” eröffnen, sind u.a. Fragen nach “Wo finden wir Gewalt in der Literatur?” und “Wie äußert sich Gewalt in der Literatur?”. Fragen nach Macht ergeben sich gleichermaßen.

Allein der Akt einer Lesereise, schon ihre Planung, ist ein gewaltvoller. Wir waren Mineure, die dort einen Weg machten mittels Sprengung, wo vorher keiner war. Würzburg, Göttingen, Köln, Leipzig, Salzburg, München, Graz, Velden, Wien – sind Detonationspunkte gewesen, die in der Form, zuvor, keine für uns signifikante literarische Bedeutung hatten. Die Signifikanz dieser Orte ergibt sich auch aus den Fehlversuchen unserer Sprengladungen, den vielen abgestorbenen Enden von Zündschnüren, der Verbindung zweier kultureller Akteur:innen durch Kommunikation.

So wie Fahrlehrer ihre Formeln haben ([Geschwindigkeit:10]x3; was bei einer Geschwindigkeit von 50km/h eine Reaktionszeit von 15m ergibt …), haben auch wir eine Art physische Gleichung aufgestellt, mehr einer Faustregel entsprechend: Ignoranz=Resonanz=0, aber auch: Ignoranz=Resonanz=Versuch der Aufrüttlung=eine Form der Gewalt ≠ 0; wenn “0” die Resonanzlosigkeit angesichts einer aufmerksamkeitsmüden und daher ignoranten Mediengesellschaft beschreibt, oder – dynamisch gesprochen –, einen erstarrten Zustand, der sich beizeiten als Ohnmacht niederschlägt, dann ist Gewalt – in seiner Bedeutung rehabilitiert – ein Moment der Befreiung, der Bildung, indem man sich eben nicht zurückzieht und auf konformistische Betätigungsweisen meditiert, sondern sich den Raum ohne Resonanz, den Raum der Ignoranz aneignet.

Die diesen Raum durchschreitenden Bewegungen sind darum wieder interessant, weil sie vielfältig sein können: eine Frage bloß (“Hat die von der Staatsregierung getragene Literaturförderung/-landschaft ein veritables Interesse daran, Betriebe der Kleinkunst klein zu halten oder durch das periodische Bewilligen von Anträgen langfristig unmündig?”); ein Widerstreit mit einer Buchhändlerin, die ausschließlich queerfeministische Literatur anbietet, bei dem man als cis-Verleger nur verlieren kann (und es trotzdem tut, weil literarische Solidarität sich nicht in Identitätspolitik erschöpft [erschöpfen darf]); der Angriff auf Monopole in Sachen Veranstaltungswerbung; sich das Klopfen auf die Schulter vom Leib zu halten.

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